Vor den Toren des Nordens

Ich sitze in Røyrvik in meinem Zimmer im Limingen Gjestegård, das Fenster steht offen und draußen prasselt der erste Regen seit langer Zeit vom Himmel. Es ist gemütlich, ich bin vollgegessen von einem ausgiebigen Frühstück und denke darüber nach, worüber ich schreiben soll, wie ich die vielen Eindrücke und Erlebnisse der letzten knapp drei Wochen in Worte fassen kann.

Gefühlt ist es ein halbes Leben her, seit ich Fjällnäs verlassen habe. Über den sehr gut ausgebauten Kungsleden ging es in vier Tagen nach Storlien. Dort habe ich mich mit meiner Freundin Isabel getroffen und mit ihr kam die große Hitze. Temperaturen von deutlich über 30 Grad, kaum Schatten im baumlosen Fjell, eine Invasion von Bremsen und dazu Rucksäcke, die mit Essen für 12 Tage beladen und somit unendlich schwer waren. Ich möchte an dieser Stelle keine schlechten Namenswitze machen, aber so ganz sicher war ich mir nicht, ob da nicht vielleicht doch ein Zusammenhang zwischen Isabels Nachnamen (Sonnenschein) und der einsetzenden Hitzewelle bestand. Wir haben jede Gelegenheit für eine Abkühlung genutzt, es gab Tagen, an denen ich tatsächlich 4 mal Baden gegangen bin. Und die sommerliche Hitze hatte auch mindestens eine weitere gute Seite: Die Beeren reiften im Rekordtempo. Neben den ersten Blaubeeren säumten bald unendliche Mengen an säuerlich leckeren Moltebeeren unseren Weg.

Deutlich langsamer als geplant ging es über die Angeltjønnhytta, Ferslia und Bellingstua nach Vera. Wir haben versucht früh morgens zu laufen, wenn die Temperaturen noch erträglich waren, haben mittags einige Stunden Pause gemacht (meist in einer der Hütten) und sind abends noch einige Stunden gelaufen. Dennoch haben diese Tage unendlich viel Kraft gekostet, das merke ich selbst jetzt noch. Auf Grund der großen Belastung und auch der verlorenen Zeit (schließlich wollte sie ihre Fähre nur sehr ungern verpassen), entschied Isabel sich, vorzeitig in Vera auszusteigen und nicht mehr weiter mit mir durch den Blåfjella Skjækkerfjella Nationalpark zu laufen. Ich war zugegebenermaßen ein wenig traurig, es war schön wieder mit jemanden auf Tour zu sein mit dem ich schon so manches Abenteuer bestritten habe und ich habe die gemeinsamen Tage sehr genossen. Aber gleichzeitig konnte ich sie auch nur all zu gut verstehen, es war wirklich unendlich anstrengend. Auch für mich – und ich bin jetzt schon so viele Wochen im Training. Aber unsere nächste Tour ist schon geplant, nächstes Jahr gehen wir dann lieber wieder zusammen auf Wintertour.

Es gäbe schon alleine über diese erste Woche unendlich viel zu berichten (denn neben der Hitze gab es auch sehr viele besondere und schöne Momente), aber ich halte mich an dieser Stelle zurück – Isabel wird in den nächsten Tagen einen eigenen Gastbeitrag zu unseren gemeinsamen Wandertagen schreiben.

Nach ihrer verfrühten Abreise, wäre es für mich eigentlich alleine weiter in Richtung Norden gegangen. Aber so ganz stimmt das nicht. Ich weiß auch nicht so richtig wie es eigentlich genau dazu kam, aber seit mittlerweile einigen Wochen laufe ich zwar die meiste Zeit des Tages alleine, treffe mich aber oft abends mit Stefan, jenem NPLer von dem ich ja bereits mehrfach erzählt habe. War es am Anfang ein zufälliges Zusammentreffen und der lose Plan einige Zeit gemeinsam zu laufen, sind wir mittlerweile zu einem ziemlich guten Team und ich würde sagen auch zu guten Freunden geworden. Wir haben ein sehr unterschiedliches Gehtempo, sodass wir nur selten wirklich zusammen laufen. Aber da ich zwar langsam laufe, dafür aber viele Stunden am Tag auf den Beinen sein kann, passt es meist gut, dass wir abends irgendwo zusammen zelten. Es ist schön sich mit jemandem auszutauschen, gemeinsam über die Erlebnisse des Tages zu reden und einfach ein bisschen zu lachen. Zudem ist mein neuer Wanderkollege ein ziemlich musikalischer Mensch, was dazu führt, dass meist alles von kurzen Gesangseinlagen, einer Runde Mundharmonika oder auch nur einem gepfiffenen Lied begleitet wird. Wir sind uns auf vielen Ebenen sehr ähnlich, vielleicht auch ein Grund, warum es so gut funktioniert. Jeder macht ein bisschen sein eigenes Ding, wir sind aber trotzdem froh um die Gesellschaft des anderen. Ich bin auf jeden Fall sehr dankbar, dass uns der Zufall hat übereinander stolpern lassen.

Kurz hinter Vera endete der Wanderweg und der erste längere weglose Abschnitt, der Blåfjella Skjækkerfjella Nationalpark lag vor uns. Seit Storlien hatte sich die Landschaft wieder deutlich verändert. Es ist insgesamt flacher, schroffe Berge sind meist nur noch in der Ferne zu sehen. Es gibt viele Wälder, die von zahllosen Sümpfen durchbrochen sind. Die lange Trockenheit macht es deutlich einfacher in diesem Terrain zu laufen. Ich möchte mir ehrlich nicht vorstellen, wie anstrengend es nach tagelangem Regen werden kann. Wobei ein bisschen Regen auch mal nicht schlecht wäre, denn mittlerweile wird es hinsichtlich der Trinkwasserversorgung ein wenig kritisch. Ist Norwegen sonst für seine rauschenden Wasserfälle bekannt, kommt man in diesen Tagen nur selten an fließenden Wasserquellen vorbei. Alle kleineren Bäche sind ausgetrocknet, in den größeren ist oft nur ein kleines Rinnsal übrig. Manches Mal habe ich mir gewünscht, doch einen Wasserfilter eingepackt zu haben und durchaus auch mal lieber verzichtet, als Gefahr zu laufen, mir eine Wasservergiftung einzuhandeln. Um so größer ist der Genuss, wenn man es schafft, abends an einem Fluß zu übernachten, der sogar ein Bad ermöglicht. Zudem ist es einfach wunderbar, abends im Schlafsack dem Rauschen und Gurgeln zu lauschen.

Unsere Route führte uns vorbei an den Einsiedlerhöfen Gaundalen und Gjevsjøen. Beide verfügen nicht über einen Straßenzugang und liegen gut 30km voneinander entfernt im Grenzland zwischen Norwegen und Schweden. Gerade als wir in Gaundalen ankamen, schwebt über unseren Köpfen ein Hubschrauber ein. An Bord, wie sich kurz darauf herausstellt, ein Reporterteam einer überregionalen Zeitung, die einen Bericht über den Hof machen wollten. Da kamen zwei Norge på langs Läufer gerade recht. Wir werden interviewt und Fotos geschossen. Gemeinsam verbringen wir heitere Stunden auf dem Hof, werden an die Kaffeetafel eingeladen und nachdem das Team mit dem Hubschrauber wieder abgerauscht ist, sitzen wir noch einige Zeit gemütlich mit der Familie in der Küche.

Von Gaundalen kann man einer alten Telegrafenleitung vorbei an der Holden DNT Hütte bis nach Gjevsjøen folgen. Meist ist die Route gut zu gehen, nur manchmal muss man sich ein wenig durchs Unterholz schlagen. Wir zelten in der Nähe von Holden an einem wunderschönen Platz am See, genießen ein Bad und die Abendsonne. Mittlerweile sind die Temperaturen deutlich gesunken, es fühlt sich angenehm spätsommerlich an. Am Mittag des nächsten Tages treffen wir uns in Gjevsjøen. Es ist ein wunderbar verträumter Ort in der Mitte von Nirgendwo. Christian Gjevsjøn, der den Hof von seinen Eltern übernommen hat, lebt hier ganz alleine. Im Sommer, wenn dann und wann Wanderer vorbeikommen, kann ich mir das ja noch ganz gut vorstellen, aber im Winter, der hier lang und dunkel ist, ist es sicherlich eine echte Herausforderung. Obwohl er gerade mitten in der Heuernte steckt, lässt er es sich nicht nehmen, uns zu Kaffee und Brötchen einzuladen. Gemeinsam mit seinem Schwager, der gerade zum Helfen vor Ort und praktischerweise der zuständige Nationalparkbetreuer ist, gehen wir die geplante Route durch das Blåfjell durch. Besonders der Aufstieg ist ein wenig herausfordernd, da Gjevsjøen fast ausschließlich von großen Sümpfen umgeben ist.

Wie schon erwähnt, verfügen Stefan und ich über ein sehr unterschiedliches Gehtempo. Deswegen dauert es auch nicht viel mehr als 10min, bis er außer Sicht ist und ich alleine im warmen Abendlicht immer weiter Richtung Blåfjell aufsteige. Langsam werden die Bäume weniger, der Untergrund fester, die Ausblicke atemberaubender. Abends treffen wir uns an einem kleinen See wieder und ein letztes Mal für die kommenden Tage zelten wir gemeinsam. Denn während es entlang einer festgelegten Route oder eines Weges sehr gut funktioniert sich zu verabreden und gemeinsam zu zelten, würde es im weglosen und weitläufigen Gelände des Blåfjells schwierig werden. Darum verabschieden wir uns am nächsten Morgen und jeder von uns geht seines Weges.

Nun stehe ich alleine in dieser Weite. Vor mir knapp 50km wegloses, bergiges Gelände. Vor meiner Tour habe ich mich oft gefragt, ob es mir wohl Furcht einjagen würde, alleine in diesen abgelegenen Gebieten zu sein. Und dabei habe ich nicht an Bären oder Wölfe gedacht, wie der ein oder andere glauben mag. Sondern vielmehr an das Gefühl der Einsamkeit und der scheinbaren Unendlichkeit der Umgebung. Aber tatsächlich ist es ganz anderes. Je weiter draußen ich bin, desto ruhiger werde ich und desto sicherer fühle ich mich. Es gibt hier draußen schlicht nichts, was mir Angst macht. Ich genieße es, selbst zu entscheiden welchen Weg ich wähle, habe Spaß daran mit Karte und Kompass eine möglichst optimale Route zu finden. Ich spüre, dass ich mich auf meine Erfahrung verlassen kann, dass sie mir hier, wo es keine ausgetreten Pfade und roten Markierungen gibt, Freiheit und Sicherheit verleiht.

Das Blåfjell ist eine wunderschöne Gegend und anders als alles was ich vorher gesehen habe. Die Landschaft ist geprägt von runden, geschliffenen Felsen und unendliche vielen kleinen Seen und Wasserlöchern. Den ersten Tag laufe ich bei bestem Wetter wie im Traum durch diese neue Umgebung. Ich fotografiere, mache lange Pausen und beende den Tag schon um 17 Uhr an einem kleinen See. Ich nehme mein obligatorisches Abendbad, koche mein Abendessen (naja, was ich dieser Tage halt Kochen nenne – Tüte auf, heißes Wasser rein, 10min warten) und genieße die Ruhe. Es sind diese Momente, in denen ich ganz von selbst die zurückliegenden Wochen und Monate Revue passieren lasse. Ich bin jetzt schon fast bei der Hälfte meiner Tour angekommen und doch schon so voller Erlebnisse und Eindrücke, dass es für Jahre reichen würde. Ich bin im Frühjahr losgelaufen, habe sehr sommerliche Wochen erlebt und fast fühlt es sich jetzt so an, als stünde der Herbst bereits vor der Tür. Ich habe jeden einzelnen Tag bis hierher genossen, auch wenn einige dabei waren, die einiges an Kraft gekostet haben. Ich wusste jeden Morgen genau, warum ich diese Tour mache und bin dankbar für diese Chance. Ich habe wahnsinnig viele interessante Menschen getroffen, spannende Gespräche geführt und sehr, sehr viel gelacht. Und ich habe eine Freundschaft geschlossen, die mir sicherlich auch nach dieser Tour erhalten bleiben wird. Natürlich vermisse ich meine Freunde und Familie, allen voran Wendelin. Alles andere wäre ja auch komisch. Aber ich werde ja zurückkommen und es dann sicherlich noch mehr genießen, sie alle um mich zu haben. Eines wird mir spätestens an diesem Abend im Blåfjell klar: Egal ob ich das Nordkap erreiche oder meine Tour auf Grund von mangelnder Zeit, einem frühen Wintereinbruch oder warum auch immer ausgebremst wird, es war eine der besten Entscheidungen meines Lebens überhaupt los zu laufen. Alles was von hier an kommt, kann ich als Bonus sehen. Und man munkelt, von hier an kämen die eigentlichen Highlights einer Norge på langs Tour.

Am nächsten Morgen ist es zum ersten Mal seit langer Zeit bewölkt und ein bisschen neblig. Ich starte schon gegen halb sieben und steige in dieser etwas mystischen Stimmung in die höher gelegenen Gebiete auf, die es heute zu queren gilt. Nach kurzer Zeit merke ich, dass ich nicht alleine bin. Immer wieder tauchen hinter Felsen ober- und unterhalb von mir Rentiere auf, die mich interessiert mustern, sich aber offensichtlich nicht von mir gestört fühlen. Es läuft gut an diesem Tag: Ich komme gut voran und mache erst nach drei Stunden meine erste Pause. Die Navigation hier oben ist enorm einfach, die vereinzelten prägnanten Berge und Seen liefern gute Anhaltspunkte. Es gibt außer Wollgras und einigen Flechten kaum Bewuchs, was das Gehen einfach macht. Schon Mittags erreiche ich den vorletzten größeren Höhenzug und mache mich an den Abstieg. Unten im Tal folge ich einem der zahlreichen Rentierpfade und mache meine Mittagspause direkt vor dem letzten Anstieg, in einem kleinen, zauberhaft verwunschenen Tal. Die Sonne schaut kurz hinter den Wolken heraus und ich bin einfach nur glücklich.

Danach geht es den letzten Hang hinauf und ich kann den großen Laksjøen sehen, der See an dem die nächste Straße und somit das Ende des bis hierher weglosen Geländes liegt. Ich laufe noch bis zu seinem Ufer und finde nach über 25km und über 10 Stunden einen wunderbaren Zeltplatz an einem kleinen Strand. Ich hätte mir natürlich überlegen können, dass es klügere Dinge gibt, als auf dem Strand zu zelten. Schließlich komme ich von der Küste und weiß ziemlich genau, dass – egal wie sehr man sich bemüht – der Sand immer seinen Weg in alle Kleidung, alle Ausrüstung und auch sonst überall hin findet. Aber am Ende war es das wert und so habe ich noch die nächste Zeit immer etwas, das mich an diesen wirklich schönen Zeltplatz erinnert.

Am nächsten Tag treffe ich Stefan wieder. Erstaunlicherweise war er hinter mir, ich muss ihn irgendwo im Gelände überholt haben. Wir laufen gemeinsam nach Nordli, genehmigen uns an der Tankstelle einen wirklich guten Burger und laufen noch am selben Nachmittag bis nach Kvelia, einen winzigen Ort, der ein besonderes Herz für Norge på langs Wanderer hat. So gibt es hier neben dem kleinen Dorfladen eine kleine Hütte in der man für eine Nacht kostenfrei übernachten darf, jeder bekommt ein paar gefilzte Wolleinlegesohlen geschenkt, es gibt einen Kaffee aufs Haus und – das ist zumindest für mich nach zwei Wochen das echte Highlight – im Keller des Hauses gibt es eine Dusche!

So gut gestärkt ging es danach zwei Tage weiter auf der Straße gen Norden, bis ich vorgestern Abend hier in Røyrvik angekommen bin. Schon länger hatte ich mir vorgenommen, hier – kurz vor der Hälfte der Tour – zwei Ruhetage einzulegen, um ein bisschen Energie zu tanken. Und es ist wirklich der perfekte Platz dafür. Hilde, die Betreiberin, und ihr Küchenteam sind enorm herzlich, versorgen uns mit gutem Essen und der nur wenige Meter entfernte Supermarkt tut sein übrigens. Mein Knie, das in den letzten Wochen immer mal wieder (wie erwartet) ein wenig zickt, hat sich schon gut wieder erholt und ich freue mich darauf morgen meinen Rucksack zu packen und weiterzulaufen. Auf zu neuen Abenteuern! Als nächstes wartet ein weiteres Highlight: Der weglose Børgefjell Nationalpark. Und wenn ich in gut 10 Tagen in Umbukta ankomme, werde ich nicht nur über die Hälfte meines Weges zum Nordkap hinter mir haben, sondern auch endgültig im Norden Norwegens angekommen sein.

3 Gedanken zu “Vor den Toren des Nordens

  1. Anonymous

    Hallo liebe Swantje, Deine Berlchte und Fotos sind Spitze !!
    Wir verfolgen Deilnen Weg mit steigendem Interesse und freuen uns, daß Dich diese Tour
    so glücklich macht.
    Papa und Mama

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