Besondere Tage

Mein letzter Beitrag ist noch gar nicht so lange her und doch möchte ich die Gelegenheit nutzen, dass ich gerade in Rjukan einen gemütlichen Pausetag einlege und mal ein bisschen genauer von zwei besonderen Tagen der vergangenen Woche berichten.

Nach meinem halben Pausetag am Sonntag und mit einem ausgiebigen Frühstück im Magen (es waren noch zwei Pfannkuchen übrig…), bin ich Montag Morgen gegen 8:45 Uhr von der Berdalsbu aufgebrochen. Schon im ersten Anstieg habe ich gemerkt, dass die Ruhe des vergangenen Tages mir enorm gut getan hatte – ich fühlte mich fit und energiegeladen und war enorm gespannt was der Tag so bringen würde. Langsam aber stetig stieg ich über die Baumgrenze und der Blick auf die umgebenden, teils schneebedeckten Bergkuppen öffnete sich. Leider versteckte sich die Sonne noch weitestgehend hinter einer dichten grauen Wolkendecke, nur vereinzelt waren hier und da in der Ferne Sonnenflecken auszumachen. Zeitgleich war es jedoch fast windstill. Ich hing meinen Gedanken nach, genoss die Ruhe und lief stetig immer weiter Richtung Tjørnbrotbu.

Nach guten drei Stunden und 9 km, wartete ein erstes größeres Hindernis auf mich: mal wieder ein Fluß. Es folgte der immer gleiche Ablauf: Den Fluß entlang wandern, um eine geeignete Watstelle zu finden, anhalten, genauer schauen. Entscheiden, dass es doch zu tief oder zu rau wirkt. Weitergehen und schließlich an der vermeintlich besten Stelle den Rucksack absetzen, die Gamaschen abmachen, Schuhe und Hose aus- und Watschuhe anziehen, Hose im Rucksack verstauen und die Schuhe an selbigem befestigen. Dann den Rucksack wieder auf den Rücken, allerdings ohne Hüft- und Brustgurt, um nicht im Fall der Fälle im Rucksack festzustecken. Dann hinein in die eisigen Fluten. Langsam Schritt für Schritt vortasten, ein Fuß vor den anderen auf und zwischen die glitschigen Steine setzen, die Strömung an den Beinen spüren und dabei immer hoffen, dass man sich nicht verschätzt hat und es auch auf der anderen Flussseite nicht zu tief ist. Die Erleichterung spüren, wenn man den letzten Schritt aufs andere Ufer gemacht hat. Erst dann fühlt man plötzlich wie kalt es eigentlich wirklich war. Die Füße brennen und prickeln und man kann nicht schnell genug wieder in jene Wanderstiefel schlüpfen, die man eben noch voller Glück endlich mal ausgezogen hatte.

Nachdem alles wieder angezogen oder sicher verstaut war, ging es weiter. Nach ziemlich genau 5 Stunden erreichte ich die Tjørnbrotbu, eine kleine, sehr gemütliche Hütte auf 1300 Meter. Wie immer ging ich kurz hinein, um einen kurzen Blick ins Hüttenbuch zu werfen. Meine Vermutung, dass Pauline hier die letzte Nacht verbracht hatte, bestätigte sich. Und nicht nur das: Neben dem Buch lag eine persönliche Nachricht für mich. Nicht nur Pauline, sondern auch Stefan (jener NPLer, den ich schon zu Beginn der Woche getroffen hatte) waren hier vorbeigekommen und er hatte mir, wissend, dass ich mich hier sicherlich vorbeischauen würde, einen kurzen Gruß und den Vorschlag eines Treffens in ca. 500km, an der norwegisch-schwedischen Grenze hinterlassen. Es ist schon besonders: Da sieht man fast zwei Tage lang keinen Menschen, wandert durch scheinbar endlose Landschaften und fühlt sich dabei manchmal wie der letzte Mensch auf Erden. Und dann liegt da plötzlich diese Notiz. Ein kleiner Glückmoment an diesem Tag, der noch einiges mehr bereithalten sollte.

Nach einer kurzen Mittagspause lief ich weiter gen Osten, hinein ins Tjørnbrotdalen. Anders als noch vor wenigen Tagen in der Setesdal Vestheiane, lag in dem engen Tal noch enorm viel Schnee, die Seen waren teilweise noch gefroren und verbunden mit dem wolkenverhangenen Himmel und den kargen Felstrukturen entstand eine Szenerie, die schwer zu beschreiben und auch auf Fotos nicht wirklich abzubilden ist. Während ich gerade über die Besonderheit der Anblickes nachdachte, nahm ich aus dem Augenwinkel auf der anderen Seeseite eine Bewegung wahr. Im ersten Moment war ich kurz versucht mich selbst zu kneifen, so unwahrscheinlich war es doch was ich dort sah: Wilde Rentiere. Genau jetzt, genau hier in diesem Moment. Ich habe schon häufiger Rentiere gesehen, oben in Lappland. Allerdings sind sie dort domestiziert und entsprechend wenig scheu. Die Rentiere im südlichen Norwegen werden jedoch bejagt und versuchen daher tunlichst unsichtbar zu bleiben. Es ist wirklich ein besonderes Glück eines zu Gesicht zu bekommen. Vollkommen euphorisiert von dem Anblick, folgte ich der Gruppe von 12 Tieren langsam auf meiner Seeseite, bis sie schließlich hinter einer Bergkuppe verschwanden. Ein bisschen habe ich es in dem Moment bereut, mich gegen eine größere Kamera entschieden zu haben, aber zeitgleich war es einfach auch schön nur den Moment zu genießen und nicht mit Fotografieren beschäftigt zu sein.

Wenn man genau hinsieht, kann man die Rentiere auf der anderen Seeseite erkennen.

Langsam ging es das Tal hinunter, wobei der Schnee mir noch einige Zeit den Weg deutlich erschwerte. Zahllose Schneefelder bedeckten die eigentliche Route und machten ein Fortkommen schwierig. Bei jedem weiteren Feld, das vor mir auftauchte, hieß es von neuem die Situation zu bewerten und zu entscheiden, ob ich es queren könnte oder ob vielleicht ein Umlaufen möglich und sinnvoller wäre. Trotz allem Abwägen, bin ich am Ende doch mehrfach bis zum Knie eingebrochen. Ohne das etwas schlimmeres passieren hätte können, aber dennoch reichen diese Momente, um einen kurz daran zu erinnern, dass eine gewisse Vorsicht durchaus angebracht ist.

Langsam aber stetig verlor ich an Höhe und das Tal öffnete sich. Ich kann jedem nur empfehlen, hier einmal langszuwandern, es ist unbeschreiblich schön. Rechts und links säumen steile Felswände den Weg, von denen in regelmäßigen Abständen Wasserfälle ins Bodenlose rauschen. Auf dem Weg nach unten begleitete mich ein Fluß, der stetig immer größer und tosender wurde. An einem besonders schönen Platz habe ich dann gegen 18:30 Uhr schließlich mein Zelt aufgebaut. Mittlerweile hatte sich auch die Sonne ihren Weg durch die Wolkendecke gebahnt und so konnte ich mein Abendessen im warmen Abendlicht genießen, bevor ich schließlich erschöpft aber glücklich in meinen Schlafsack gekrochen bin. Ich lag noch einige Zeit wach, habe nachdachte über die Erlebnisse des Tages und in mich hineingehorcht. Und habe gemerkt, dass ich das Gefühl habe, jetzt nach zwei Wochen in diesem Abenteuer angekommen zu sein. Und es fühlt sich genau richtig an. Natürlich bin ich abends erschöpft und meine Füße schmerzen. Aber das ist nichts im Vergleich zu den besonderen Momenten, die ich hier erlebe und dem Gefühl von Freiheit bei dem Gedanken daran, dass ich noch mehrere Monate unterwegs sein werde.

Mit diesen Gedanken bin ich eingeschlafen und am nächsten Morgen bei strahlendem Sonnenschein wieder aufgewacht. Nach einer gemütlichen Tasse Kaffee mit Blick in mein neues Lieblingstal, bin ich losgelaufen. Mein Plan waren ca. 24 km bis zum nächstgelegenen Campingplatz. Nach 9 Tagen war der Gedanke an eine Dusche doch ganz reizvoll, zumal für die Nacht Regen angekündigt war. Nach einigen Kilometern ging der Wanderweg wie erwartet in eine Schotterstraße über. Beim Laufen wurde ich stetig vom Läuten der Schafsglocken begleitet. Südnorwegen ist Schafsgebiet und gerade jetzt werden mehr und mehr Tiere mit ihren Lämmern für den Sommer in die Berge gebracht. Das ein oder andere Tier ist bei meinem Anblick ein wenig erschrocken, ich versuche das aber einfach mal nicht persönlich zu nehmen.

Gegen 11:30 kam von hinten ein Auto an mir vorbeigefahren. Der Fahrer hielt, kurbelte seine Fenster runter (in Wirklichkeit waren es sicher elektrische Fensterheber) und es entspann sich ein Gespräch, wie ich es in der letzten Zeit häufiger geführt habe: Woher ich komme, ob ich auf einer langen Tour sei? Oh, bis zum Nordkap, das ist weit. Schließlich luden mich John und seine Frau ein mit ihnen mitzufahren und zu Mittag zu essen. Die Mitfahrt habe ich dankend abgelehnt (ich will ja zum Nordkap laufen), die Einladung zum Mittag aber gerne angenommen. Ich solle einfach nur zwei Kilometer weiter die Straße hinunter laufen, dann käme ihr Hof auf der linken Seite. Ich könne es nicht verfehlen. Gesagt, getan. Die kommenden Kilometer fragte ich mich, wann wohl derer zwei vorbei seien und hielt nach dem betreffenden Hof Ausschau. Hätte ich aber gar nicht gebraucht, kaum war ich an der richtigen Stelle angekommen, hörte ich schon ein fröhliches Willkommen – man hatte auf mich gewartet. Ich wurde ins Haus gebeten und bei Mittagessen und anschließendem Kaffee erzählten ich von meiner Tour und erfuhr einiges über das Leben, das John und Gunn Signe auf ihrem Hof hier oben führen. Und von der Tochter, die die Welt bereist. Im letzten Jahr war sie sogar im Iran, das hat die Eltern dann doch in Sorge versetzt. Da solle man doch lieber durch Norwegen wandern. Mehr durch Zufall fragte ich, ob sie wüssten, ob der Campingplatz, den ich abends ansteuern wollte schon offen sei. Sie gingen davon aus, aber ein kurzer Anruf würde sicherlich nicht schaden. Man kenne sich. Übrigens, so erzählte John, sei Øystein, der Lebensgefährte der Betreiberin, selbst mal Norge på Langs gelaufen. Er rufe ihn mal kurz an. Das Ergebnis des Gespräches war, dass ich gerne vorbeikommen solle, ich könne dort gerne übernachten und müsse auch nichts zahlen. Er selbst sein nicht da, aber er würde seiner Partnerin Torunn Bescheid geben. Ich verabschiedete mich von John und Gunn Signe und lief – nun leider auf der Straße – meinem heutigen Tagesziel, dem Mjonøy Campingplatz, entgegen.

Nach 12km war das Ziel erreicht, ein wunderschöner kleiner Campingplatz direkt am Fluß mit einer ganzen Reihe historischer kleiner Hütten, mit Feuerplätzen und Hängematten zwischen den Bäumen. Torunn war gerade nirgends zu finden, also wählte ich die Nummer, die an der Rezeption aushing. Sie käme gleich, ich solle es mir gemütlich machen und mich gerne an dem Kuchen aus der eigenen Bäckerei bedienen. In einer der Hütten entdeckte ich tatsächlich eine kleine Backstube und als ich die Tür öffnete, schlug mir der Geruch von frisch Gebackenem entgegen. Wow, was ein Anblick. Der Raum war voll mit Regalen mit Brot und Gebäck, alles sah unbeschreiblich lecker aus. Ich setzte mich mit meiner kleinen Kuchenauswahl in die Sonne, zog die Stiefel aus und genoß mein Glück. Nicht mal eine halbe Stunde später kam Torunn. Sie ist eine wahnsinnig herzliche Frau, die mir auf Anhieb enorm sympathisch war. Wir unterhielten uns noch eine Weile über dies und das, dann zeigte sie mir meinen Schlafplatz für die Nacht: ein kleine ehemaliger Lagerschuppen, den sie mit viel Liebe zum Detail als Campinghütte umgebaut hatte. Ich bedankte mich aus vollem Herzen, bezog mein kleines Reich und genoss die erste Dusche seit Ljosland.

Danach blieb noch ein wenig Zeit vor der Hütte mit Blick auf den Bach meine Schuhe zu pflegen, bevor ich mich der beginnende Regen nach drinnen trieb und ich bald darauf in einen tiefen Schlaf fiel.

Es ist wirklich bemerkenswert mit welcher Selbstverständlichkeit und welchem ehrlichen Interesse einem die meisten Menschen hier begegnen. Seit ich losgelaufen bin, haben mich unzählige Menschen angesprochen, immer wieder wird man am Wegesrand in Gespräche verwickelt. Es scheint so völlig normal, einfach auch mal mit Fremden einen kleinen Plausch zu halten. Ich finde das ist eine Sache, die man sich selbst auch mal für Zuhause mehr vornehmen kann.

Mittlerweile bin ich nach drei langen Tagen auf der Straße in Rjukan angekommen. Hier mache ich heute einen Pausetag und bereite mich auf den nächsten Abschnitt, die Hardangervidda, vor. Für die nächsten knapp drei Wochen werde ich nicht alleine unterwegs sein: In wenigen Stunden kommt Nora, eine Freundin aus Deutschland, um mich ein Stück meines Weges zu begleiten.

4 Gedanken zu “Besondere Tage

  1. Marcus

    Hei,
    wow, das läuft ja wie geschmiert bei Dir! 😄
    Leute wie Du, Leute die besondere Dinge vollbringen; haben auch besonders tolle Erlebnisse und Begegnungen.
    Es macht Freude hier mit Dir mitwandern zu können.

    Lykke till!
    Marcus

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  2. Irena

    Liebe Swantje,

    ich lese deine Berichte bereits immer sehr aufgeregt in der mail die ich erhalte, weil ich es nicht abwarten kann auf den link zu klicken 😉
    Dabei fällt mir auf – ich „brauche“ deine Bilder gar nicht, um mir ein ‚Bild zu machen‘ 🙂
    -> Du (be-)schreibst die Szenarien so lebendig, bildhaft 😀

    Ich danke dir!

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  3. Volkmar Werner

    Liebe Swantje,
    wer sich aufmacht, wird belohnt. Vielen Dank für den Bericht und die Fotos – da bekomme ich doch Heimweh nach dem Fjell.
    Liebe Grüße,
    Volkmar

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